Nachdem das so genannte Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Arbeitszeiterfassung aus dem Jahr 2019 in Deutschland bisher recht wenig Beachtung fand, wird der deutsche Gesetzgeber etwa ein halbes Jahr nach dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13. September 2022 nun aktiv.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat am 18. April 2023 einen lang erwarteten Gesetzesentwurf vorgelegt, durch den die bereits durch den EuGH und das BAG festgestellte Pflicht zur Arbeitszeiterfassung Einzug in das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) finden soll.
Das BAG hatte unter Hinweis auf das Urteil des EuGH im September 2022 entschieden, dass Arbeitgeber in Deutschland bereits nach geltendem Recht verpflichtet seien, die gesamte Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden aufzuzeichnen. Während das „Ob“ der Frage nach einer Pflicht zur Arbeitszeitverfassung durch die Entscheidung des BAG eindeutig geklärt war, blieb und bleibt die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung Sache des Gesetzgebers.
Der nunmehr vom BMAS vorgelegte Gesetzesentwurf sieht im Wesentlichen folgende Regelungen vor:
Pflicht zur täglichen elektronischen Zeiterfassung
§ 16 ArbZG, welcher in seiner aktuellen Fassung lediglich die Erfassung von geleisteten Überstunden vorschreibt, soll den Arbeitgeber nach seiner Neufassung verpflichten, „Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen.“
Während sowohl der EuGH als auch das BAG sich zur Form der Zeiterfassung nicht äußerten, schreibt der Gesetzesentwurf Arbeitgebern erstmals eine bestimmte Form der Zeiterfassung vor. Auch die geplante Verpflichtung zur täglichen Zeiterfassung geht über die vom BAG und EuGH getroffenen Entscheidungen hinaus.
Durch die Formulierung „Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit“ dürfte die durch das BAG nicht explizit geklärte Frage, ob auch Pausenzeiten zu erfassen seien, beantwortet sein. Nur durch die Erfassung der Pausenzeiten kann sichergestellt werden, dass die gesetzlichen Vorgaben zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhepausen eingehalten werden.
Verantwortung des Arbeitgebers
Weiterhin stellt der Entwurf klar, dass der Arbeitgeber die Zeiterfassung zwar auf seine Mitarbeitenden oder Dritte delegieren kann, er aber für die ordnungsgemäße Aufzeichnung verantwortlich bleibt.
Somit wird Arbeitgebern zu empfehlen sein, die korrekte Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit durch ihre Mitarbeitenden engmaschig zu kontrollieren, um ihrer Verantwortung nachzukommen. Ebenfalls empfiehlt sich nach der Gesetzesbegründung, die Mitarbeitenden ordnungsgemäß über ihre Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zu informieren und anzuleiten. Zu Beweiszwecken empfiehlt sich auch, die Unterweisung der Mitarbeitenden zu dokumentieren.
Vertrauensarbeitszeit
Auch die nach dem Beschluss des BAG aufgeworfene, bislang unbeantwortete und deshalb umstrittene Frage, wie sich die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auf zwischen den Arbeitsvertragsparteien vereinbarte Vertrauensarbeitszeit auswirkt, wird durch den Gesetzesentwurf beantwortet.
So soll in § 16 Abs. 4 ArbZG ausdrücklich geregelt werden, dass der Arbeitgeber, sofern er auf die Kontrolle der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verzichtet hat, durch geeignete Maßnahmen sicherstellen muss, dass ihm Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zur Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden.
In der Begründung zum Gesetzesentwurf wird klargestellt, dass der Arbeitgeber im Falle vereinbarter Vertrauensarbeitszeit nicht auf die Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit (inkl. Ruhepausen) verzichten darf und dass er auch im Falle vereinbarter Vertrauensarbeitszeit Aufzeichnungen der gesamten Arbeitszeit aufbewahren muss, nicht etwa nur Mitteilungen über Verstöße gegen gesetzliche Regelungen.
Auskunfts- und Herausgabeanspruch
Im Einklang mit dem EuGH soll § 16 Abs. 5 ArbZG vorsehen, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf Verlangen über die aufgezeichnete Arbeitszeit zu informieren und eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen hat.
Diese Regelung dürfte weitreichende Folgen für die Praxis, insbesondere für Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Überstundenvergütung, haben. Zwar konnten Mitarbeitende bisher auch über den datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch nach der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) Auskunft über Arbeitszeitaufzeichnungen (sofern vorhanden) verlangen.
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung sowie der im Gesetzesentwurf vorgesehene Herausgabeanspruch werden es Mitarbeitenden künftig aber signifikant erleichtern, ihrer Darlegungs- und Beweislast im Rahmen von gerichtlichen Verfahren wegen der Geltendmachung von Überstundenvergütung – die erst letztes Jahr vom BAG erneut bestätigt wurde – nachzukommen.
Aufbewahrungspflicht
Der Arbeitgeber muss die Arbeitszeitnachweise (Aufzeichnungen der Arbeitszeit und Verzeichnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) mindestens zwei Jahre aufbewahren. Dies entspricht den bisherigen Regelungen.
Abweichungen durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung möglich
Tarifvertrags- und Betriebsparteien eröffnet der Gesetzesentwurf Spielraum für Abweichungen.
Demnach kann durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung die Aufzeichnung in nichtelektronischer Form zugelassen werden.
Darüber hinaus kann in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarung geregelt werden, dass die Zeiterfassung an einem anderen Tag erfolgen kann, spätestens aber innerhalb einer Woche.
Schließlich können die Tarifvertrags- oder Betriebsparteien festlegen, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bei Mitarbeitenden, bei denen die Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der Tätigkeit „nicht gemessen oder im Voraus festgelegt wird“ oder von denjenigen „selbst festgelegt werden kann“, nicht bestehe.
Der Wortlaut der letztgenannten Regelung geht laut der Gesetzesbegründung auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH zurück. Gemeint sind etwa „Führungskräfte, herausgehobene Experten oder Wissenschaftler, die nicht verpflichtet sind, zu festgesetzten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend zu sein“.
Übergangsregelungen und Ausnahmen
Der Gesetzesentwurf erkennt letztlich auch an, dass die Umsetzung der gesetzlichen Regelungen zur elektronischen Arbeitszeiterfassung Unternehmen unterschiedlich hart trifft und sieht deshalb eine nach Unternehmensgröße gestaffelte Übergangsregelung für die Einführung eines elektronischen Systems für die Arbeitszeiterfassung vor. Kleinbetriebe sind dauerhaft von der Pflicht zur elektronischen Aufzeichnung der Arbeitszeit ausgenommen.
Ausnahmen von der Pflicht zur elektronischen Aufzeichnung der Arbeitszeit gelten ferner für ausländischen Arbeitgeber ohne Betriebsstätte im Inland, wenn diese bis zu zehn Mitarbeitende nach Deutschland entsenden und für Privathaushalte, die Hausangestellte beschäftigen.
Wichtig ist, dass die genannten Ausnahmen und Übergangsregelungen sich ausschließlich auf die elektronische Form der Zeiterfassung beziehen. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht bereits jetzt, kann aber (noch) in anderer als elektronischer Form (z.B. in Papierform) erfüllt werden.
Leitende Angestellte
Schließlich dürfte durch den Gesetzesentwurf auch die vom BAG offen gelassene Frage nach der Anwendbarkeit der Aufzeichnungspflicht auf leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geklärt sein.
Der Entwurf enthält jedenfalls keinen Hinweis darauf, dass von § 18 ArbZG künftig abgewichen werden soll. Nach § 18 ArbZG ist das ArbZG nicht auf leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG anwendbar. Entsprechend sind leitende Angestellte nach derzeitigem Stand von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen.
Sanktionen bei Nichteinhaltung
Der Gesetzesentwurf erweitert den Katalog der Ordnungswidrigkeiten, die nach § 22 ArbZG mit Bußgeldern bis zu EUR 30.000,00 belegt sind, ausdrücklich um die neu eingeführten Pflichten.
Dies bedeutet, dass mit Inkrafttreten des Gesetzes nunmehr Verstöße gegen die Aufzeichnungspflicht sowie Verstöße gegen die Auskunfts- und Herausgabepflicht direkt mit Bußgeldern von bis zu EUR 30.000,00 geahndet werden können, nicht erst – wie bisher – nach einem Verstoß gegen eine behördliche Anordnung.
Fazit und Aussichten
Der lang erwartete Gesetzesentwurf bietet zwar Antworten auf viele Fragen im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung. Die vom BMAS angekündigte „Praxistauglichkeit“ ist zumindest im Bereich der Vertrauensarbeitszeit, aber auch in Zeiten der weit verbreiteten Telearbeit und der Arbeit im Home-Office fraglich. Der Gesetzesentwurf wird den Anforderungen an eine moderne Arbeitswelt wenig gerecht. Insbesondere bietet er wenig Flexibilität für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, da die geltenden Ruhezeiten unverändert bleiben.
Ob der Entwurf, der nun das Gesetzgebungsverfahren durchläuft, tatsächlich in seiner jetzigen Fassung beschlossen werden wird, bleibt abzuwarten.
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