Sachverhalt
Der Kläger war seit Januar 2016 Mitarbeiter bei der Beklagten, einem Fachhändler für E-Bikes. Seit Juli 2021 war der Kläger deren Filialeiter. Die Beklagte sprach gegenüber dem Kläger eine ordentliche Kündigung aus. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage und klagte zudem auf Zahlung von Bonusansprüchen. Um diese (aus seiner Sicht bestehenden) Bonusansprüche zu belegen, legte der Kläger einen (angeblichen) Arbeitsvertrag vom 15. Januar 2016 vor. Der Kläger trug vor, dass aus seiner Sicht auf Basis dieses Arbeitsvertrags ein Anspruch auf die begehrte Bonuszahlung bestehe; die Parteien hätten sich auf diesen Arbeitsvertrag geeinigt und diesen gelebt. Die Beklagte wandte hiergegen ein, dass sich die Parteien nie über einen Vertrag dieses Inhalts geeinigt hätten. Zudem legte die Beklagte E-Mail-Verkehr vor, wonach die Parteien erst Anfang 2023 über einen Arbeitsvertragsentwurf (mit auffällig ähnlichem Inhalt) verhandelt haben. Der vom Kläger vorgelegte Arbeitsvertrag (der angeblich vom 15. Januar 2016 stammen sollte) sei eine abgeänderte Version des Arbeitsvertragsentwurfs aus dem Jahr 2023. Letztlich konnte nicht erwiesen werden, dass sich die Parteien tatsächlich auf den vom Kläger vorgelegten Arbeitsvertrag geeinigt hätten. Sie haben diesen auch nicht unterschrieben. Aus Sicht der Beklagten habe der Kläger daher gelogen, als er den Arbeitsvertrag vom 15. Juli 2016 vorlegte und behauptete, die Parteien hätten einen Vertrag dieses Inhalts vereinbart und gelebt. Daher sprach die Beklagte eine außerordentliche fristlose Kündigung wegen versuchten Prozessbetrugs aus. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hatte zu entscheiden, ob der Kläger gelogen hat und ob dies die außerordentliche fristlose Kündigung rechtfertigte.
Rechtlicher Hintergrund
Befürchtet der Arbeitnehmer, mit wahrheitsgemäßen Angaben einen Prozess gegen seinen Arbeitgeber nicht gewinnen zu können, und gibt er deswegen bewusst wahrheitswidrige Erklärungen ab, kann dies eine außerordentliche fristlose Kündigung rechtfertigen. Mit bewusst wahrheitswidrigen Erklärungen verletzt der Arbeitnehmer in erheblicher Weise seine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers. Diese Pflicht besteht auch im gekündigten Arbeitsverhältnis. Keine Rolle spielt dabei, ob der wahrheitswidrige Vortrag letztlich im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer mit einer Lüge das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit des Arbeitnehmers irreparabel zerstört.
Um solche pflichtwidrigen Lügen handelt es sich allerdings nur bei unwahren Behauptungen über Tatsachen, d. h. über die objektive Sachlage. Diese sind abzugrenzen von Werturteilen. Äußert der Arbeitnehmer im Gerichtsverfahren lediglich eine unzutreffende Rechtsauffassung, stellt dies keine unwahre Tatsachenbehauptung und damit keine pflichtwidrige Lüge dar.
Urteil des Arbeitsgerichts Lingen (1. Instanz)
Das Arbeitsgericht Lingen gab der Kündigungsschutzklage statt und lehnte einen (versuchten) Prozessbetrug des Klägers ab. Im Wesentlichen begründete das Arbeitsgericht seine Entscheidung damit, dass es sich bei dem Vortrag des Klägers nicht um die Behauptung von Tatsachen gehandelt habe. Das Vorlegen des nicht unterzeichneten Arbeitsvertrags enthalte schon nicht die Behauptung, dass sich die Parteien auch über diesen Arbeitsvertrag geeinigt hätten. Der Vortrag des Klägers, er habe „gemäß § 4 des Arbeitsvertrags einen Anspruch“, sei lediglich eine Rechtsauffassung und keine Tatsachenbehauptung.
Urteil des LAG Niedersachsen (2. Instanz)
Das LAG Niedersachen hat anders entschieden und einen versuchten Prozessbetrug des Klägers bejaht. Es hat die deswegen ausgesprochene außerordentliche Kündigung für wirksam befunden.
Das LAG Niedersachen hat in der Klageerhebung und dem Verweis auf den eingereichten „Arbeitsvertrag vom 15. Januar 2016“ eine Täuschung über Tatsachen gesehen. Die Lüge liege in der Behauptung, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsvertrag mit dem vorgelegten Inhalt vereinbart und gelebt worden sei. Dies habe sich jedoch im Laufe des Verfahrens als objektiv falsch herausgestellt. Damit habe der Kläger nicht lediglich einen Sachverhalt als Vertragsschluss bewertet und eine Rechtsauffassung geäußert. Stattdessen enthalte diese Behauptung einen darüber hinausgehenden „Tatsachenkern“: die Behauptung einer Einigung über den vorgelegten Arbeitsvertrag, die es in der behaupteten Weise nicht gegeben hat.
Fazit
Das Urteil des LAG Niedersachsen verdeutlicht die arbeitsrechtlichen Konsequenzen von Lügen des Arbeitnehmers im Verfahren gegen den Arbeitgeber. Dabei kann sich der Arbeitnehmer nicht damit entlasten, dass die unwahre Behauptung nicht von ihm selbst, sondern lediglich von seinem Rechtsanwalt vorgetragen wurde. Unwahren Tatsachenvortrag seines Rechtsanwalts muss sich der Arbeitnehmer zurechnen lassen (§ 85 Abs. 1 S. 1 ZPO i. V. m § 46 Abs. 2 ArbGG). Damit können auch unwahre Tatsachenbehauptungen des Rechtsanwalts dazu führen, dass dem Arbeitnehmer wegen dieser Lügen außerordentlich gekündigt werden kann. Das Urteil des LAG Niedersachen mahnt damit Arbeitnehmer wie Rechtsanwälte gleichermaßen zur Vorsicht bei der Darstellung des Sachverhalts im Gerichtsverfahren mit dem Arbeitgeber.
Zwar sind Rechtsauffassungen als Werturteile von der prozessualen Wahrheitspflicht im Zivilprozess ausgenommen, da die Gerichte in der rechtlichen Würdigung frei und nicht an das Vorbringen der Parteien gebunden sind. Anders ist dies jedoch bei Tatsachenbehauptungen. Das Urteil des LAG Niedersachsen erinnert daran, vor der Äußerung von Rechtsauffassungen genau zu prüfen, ob diese nicht auch einen darüber hinausgehenden „Tatsachenkern“ enthalten und damit eine – ggf. unwahre – Tatsachenbehauptung darstellen können.
Martin Braun ist Senior Associate im Münchener Büro von Ogletree Deakins.
Pauline von Stechow ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Berliner Büro von Ogletree Deakins.
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