BAG, Urteil vom 16. Mai 2019 – 6 AZR 329/18

Der sich aus § 164 IV SGB IX ergebende Beschäftigungsanspruch eines schwerbehinderten Arbeitnehmers begründet keine uneingeschränkte Beschäftigungsgarantie und ist mithin nicht so weitgehend, als dass er den Arbeitgeber verpflichtet, zusätzliche Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen einzurichten, welcher es nach dem Organisationskonzept des Arbeitgebers nicht bedarf.

Sachverhalt:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der mit einem Grad von 50 schwerbehinderte Kläger war seit 1982 bei der Beklagten, einem Metallverarbeitungsbetrieb, als „Kernmacher – Anlernling“ angestellt und führte im Wesentlichen einfache Hilfstätigkeiten aus.

Aufgrund der langen Betriebszugehörigkeit unterfiel das Arbeitsverhältnis einem tariflichen Sonderkündigungsschutz, wonach der Kläger nur noch aus wichtigem Grund kündbar war.
Im März 2016 wurde über das Vermögen der Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Beklagte vereinbarte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, demzufolge 17 von 73 Arbeitnehmern des Betriebs, darunter der Kläger, entlassen werden sollten.
Nach Zustimmung des Integrationsamts kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis am 27. April 2016 aus betriebsbedingten Gründen ordentlich zum 31. Juli 2016.

Als Begründung führte sie an, dass die vom Kläger ausgeführten Hilfstätigkeiten aufgrund des rückläufigen Auftragsvolumens künftig von den verbleibenden vier Fachkräften mitübernommen würden, sodass für die Tätigkeit des Klägers kein Bedarf mehr bestehe.
Andere Tätigkeiten, welche der schwerbehinderte Kläger hätte ausüben können, gab es nicht. Somit bestand eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem freien Arbeitsplatz nicht.
Der Kläger hielt die Kündigung gleichwohl für unwirksam und berief sich zur Begründung der Unwirksamkeit auf den tariflichen Sonderkündigungsschutz sowie den aufgrund vorhandener Schwerbehinderung bestehenden Beschäftigungsanspruch.
In den Vorinstanzen blieb die Klage erfolglos.

Entscheidung:

Die Revision vor dem BAG war zulässig, aber unbegründet.
Zunächst stellten die Erfurter Richter klar, dass trotz des entgegenstehenden tariflichen Sonderkündigungsschutzes aufgrund der Insolvenz der Beklagten eine ordentliche Kündigung gem. § 113 S.1 InsO grundsätzlich möglich sei. Auch sei die gem. § 113 S. 2 InsO verkürzte Kündigungsfrist gewahrt.
Im Weiteren setzte sich das BAG mit der Frage auseinander, ob der sich aus § 164 IV SGB IX ergebende Beschäftigungsanspruch eines schwerbehinderten Arbeitnehmers den Arbeitgeber in seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit soweit einschränkt, dass eine Kündigung Schwerbehinderter wegen Wegfall des Bedarfs praktisch unmöglich ist.

Dies wurde im Ergebnis unter Hinweis auf die Zumutbarkeitsgrenze des § 164 IV 3 SGB IX verneint.
Das Gericht führte aus, ein Arbeitgeber sei berechtigt auch eine solche unternehmerische
Entscheidung zu treffen, welche durch eine Organisationsänderung zum ersatzlosen Wegfall des Arbeitsplatzes des Schwerbehinderten führe.

Der sozialrechtliche Beschäftigungsanspruch sei hingegen erst im Rahmen der Prüfung möglicher Weiterbeschäftigungsoptionen auf einem anderen Arbeitsplatz zu berücksichtigen und könne dem Arbeitgeber dann ggf. entsprechende Maßnahmen abverlangen. Dafür sei jedoch eine tatsächlich bestehende Beschäftigungsmöglichkeit Voraussetzung, woran es im Vorliegenden aber gerade fehle.

Sinn und Zweck des Anspruchs sei es nicht, Schwerbehinderte generell vor einem Arbeitsplatzverlust zu schützen. Stattdessen solle lediglich ein behinderungsgerechter Zugang zu einer Beschäftigung ermöglicht werden, indem Schwerbehinderten ein klagbarer Anspruch auf eine fähigkeiten- und kenntnisgerechte Beschäftigung eingeräumt wird.
Mangels einer der Beklagten obliegenden Verpflichtung, zugunsten des Klägers einen nach dem Organisationskonzept nicht mehr benötigten Arbeitsplatz zu schaffen oder zu erhalten, war die Klage als unbegründet abzuweisen.

Praxistipp von Ogletree Deakins:

Die Entscheidung stärkt begrüßenswerter Weise die unternehmerische Entscheidungsfreiheit.
Der sich aus § 164 SGB IX ergebende Weiterbeschäftigungsanspruch ist zwar durchaus geeignet, den Arbeitgeber zu Umgestaltungsmaßnahmen (oder deren Unterlassung) zu verpflichten, um so die (Weiter-)Beschäftigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers zu ermöglichen. Voraussetzung dafür ist jedoch stets das grundsätzliche (Fort-)Bestehen einer Beschäftigungsmöglichkeit.
Trifft der Arbeitgeber jedoch eine unternehmerische Entscheidung, welche zum ersatzlosen Wegfall des Arbeitsplatzes des Schwerbehinderten führt, so ist er in dieser frei und nicht durch den Weiterbeschäftigungsanspruch eingeschränkt.
Folglich sind Arbeitgeber zwar angehalten, im Rahmen von Organisationsentscheidungen stets zu überprüfen, ob Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten zugunsten schwerbehinderter Arbeitnehmer gegeben sind oder durch zumutbare Umstrukturierungen noch existierender, freier Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Sofern jedoch kein freier Arbeitsplatz (mehr) vorhanden ist, begründet der sozialrechtliche Beschäftigungsanspruch aber keine Verpflichtung zur Schaffung oder „Freikündigung“ eines solchen. Unter diesen Voraussetzungen ist daher die betriebsbedingte Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer zulässig.

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