Eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes zeigt wieder einmal: Das Thema Arbeitszeit ist und bleibt für Arbeitgeber höchst brisant. Nicht viele andere arbeitsrechtliche Themen wurden in der Vergangenheit insbesondere vor dem Hintergrund eines die Arbeitszeiterfassung betreffenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) so ausgiebig diskutiert. Diesen Diskussionen bereitete das Bundesarbeitsgericht in seiner jüngsten Entscheidung vom 13. September 2022 mit einem Paukenschlag ein Ende.

Hintergrund: Das Stechuhr-Urteil des EuGH

Zur Erinnerung: Im Mai 2019 entschied der EuGH in seinem sogenannten Stechuhr-Urteil, dass die EU-Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten müssen, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden zu erfassen (wir berichteten). Denn die Auslegung der Richtlinie 2003/88 EG im Lichte der EU-Grundrechte-Charta ergebe, dass nur durch Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit die Einhaltung der EU-Arbeitszeitrichtlinie kontrolliert und der damit bezweckte Gesundheitsschutz der Beschäftigten gewährleistet werden könne. Die konkreten Modalitäten der Umsetzung sollten die Mitgliedstaaten bestimmen. In Deutschland sah das Arbeitszeitgesetz eine derartige Erfassungspflicht bislang nur punktuell für Sonntagsarbeit und Überstunden vor. Die Entscheidung des EuGH sorgte daher für viel Diskussion und Unsicherheit hinsichtlich einer weitergehenden Zeiterfassungspflicht, deren Ausgestaltung und Folgen. Unklar blieb vor allem, ob die europäischen Vorgaben für Arbeitgeber bereits unmittelbar bindend waren oder es erst noch einer gesonderten Umsetzung in das deutsche Recht bedurfte. Im weiteren Verlauf der Debatten hatte sich hierzulande schließlich die letztgenannte Auffassung durchgesetzt. So sollte zunächst der deutsche Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage für eine generelle Zeiterfassungspflicht durch die Arbeitgeber schaffen.

Überraschende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Nun ist das Bundesarbeitsgericht mit seiner Entscheidung vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21 dem Gesetzgeber zuvorgekommen und hat im Gleichklang mit dem Europäischen Gerichtshof entschieden: Eine gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gibt es bereits.

Dabei fing der zugrundeliegende Rechtsstreit zunächst eher unspektakulär an: Ein Arbeitgeber und ein Betriebsrat stritten darüber, ob der Arbeitgeber auf Initiative des Betriebsrates hin zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems verpflichtet werden könnte. Nachdem die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber über eine Betriebsvereinbarung zur Zeiterfassung gescheitert waren, hatte der Betriebsrat eine Einigungsstelle angerufen. Deren Zuständigkeit rügte der Arbeitgeber mangels entsprechenden Initiativrechts des Betriebsrates. Dem schloss sich das Arbeitsgericht in erster Instanz an. Das Landesarbeitsgericht gab dagegen dem Betriebsrat recht und bejahte dessen Initiativrecht.

Das Bundesarbeitsgericht lehnte ein Initiativrecht des Betriebsrates bei der Einführung einer Arbeitszeiterfassung dann in letzter Instanz ab, dies allerdings mit weitreichender Begründung: Wenn und soweit bereits eine gesetzliche Regelung besteht, sei für ein Initiativrecht des Betriebsrates kein Raum. Eine solche gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung resultiere in unionrechtskonformer Auslegung bereits aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz. Denn danach gehört es zu den Grundpflichten der Arbeitgeber, für den Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten erforderliche Arbeitsschutzmaßnahmen zu treffen. Dabei müssen sie auch für eine geeignete Organisation sorgen und die erforderlichen Mittel bereitstellen. Dies soll laut Bundesarbeitsgericht eine Verpflichtung der Arbeitgeber zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung umfassen, wie dies ja 2019 bereits vom EuGH gefordert worden war.

Dass auf einen zunächst unscheinbaren Rechtsstreit eine derart bahnbrechende Entscheidung aus Erfurt folgen würde, hat wohl niemand geahnt. Denn damit widerspricht das Bundesarbeitsgericht all denen, die zunächst den Gesetzgeber in der Verantwortung zum Thema Zeiterfassung sahen. Mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes gilt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nun unmittelbar und ohne Übergangsfrist.

Weitreichende Folgen für die Praxis

Die Entscheidung dürfte weitreichende Folgen für die Praxis haben. Dies gilt vor allem für Arbeitgeber, die bisher noch kein umfassendes System zur Arbeitszeiterfassung in ihrem Unternehmen eingeführt haben. Aber auch für Arbeitgeber, die auf mobiles Arbeiten und Vertrauensarbeitszeit setzen, könnte die Entscheidung einen groben Einschnitt bedeuten. Denn eine umfassende Pflicht zur Zeiterfassung wird sich mit derartigen Arbeitszeitmodellen in der Praxis oft wohl nur schwer vereinbaren lassen.

Offen bleibt zunächst auch, welchen konkreten Anforderungen ein System zur Arbeitszeiterfassung genügen muss. In seinem Urteil aus 2019 hat der Europäische Gerichtshof hierzu nur allgemeine Vorgaben gemacht und die nähere Ausgestaltung des von ihm geforderten Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeiten ausdrücklich den Mitgliedstaaten überlassen. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit das Bundesarbeitsgericht in seiner bislang noch nicht veröffentlichten Entscheidungsbegründung hierzu nähere Aussagen getroffen hat.

Schon jetzt dürfte aber klar sein, dass Arbeitgeber nach Auffassung der Erfurter Richterinnen und Richter um die Einführung eines Zeiterfassungssystems künftig kaum umhinkommen werden. Solange Gerichte und Gesetzgeber hierzu keine konkreteren Vorgaben gemacht haben, sollte dazu allerdings jede Form der Zeiterfassung ausreichen, die eine objektive und verlässliche Dokumentation der täglichen Arbeitszeiten sicherstellt.

© 2022 Shutterstock / Olivier Le Moal

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