I. Was war passiert?
Eine langjährig beschäftigte kaufmännische Angestellte einer Autowerkstatt klagte auf die Auszahlung von Überstundenvergütung. Vertraglich waren 24 Wochenstunden vereinbart – tatsächlich arbeitete sie nach eigener Darstellung regelmäßig bis zu 44 Stunden wöchentlich, auch an Samstagen. Als Nachweis reichte die Klägerin detaillierte Tabellen ein, in denen sie ihre Arbeitszeiten dokumentiert hat. Über den Zeitpunkt der Erstellung der Tabellen bestand Streit.
Die Beklagte bestritt die Mehrarbeit. Eine eigene Zeiterfassung war in dem Betrieb nicht eingeführt worden.
Das Arbeitsgericht Oldenburg hat die Klage zunächst abgewiesen. Es hat aufgrund des Vortrags der Parteien angenommen, dass die detaillierten Listen im Nachhinein erstellt worden sind. Das Arbeitsgericht befand damit die Aufzeichnungen für nicht glaubhaft. Ferner hat die Klägerin nach Ansicht des Arbeitsgerichts nicht dargelegt, dass die Überstunden gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sind. Das LAG Niedersachsen gab der Klägerin weitgehend recht und sprach ihr insgesamt Überstundenvergütung von über 46.000 Euro brutto zu. Zunächst korrigierte es die Annahme des Arbeitsgerichts zur Glaubhaftigkeit der in den Prozess eingeführten Listen. Darüber hinaus wertete das LAG es als Zugeständnis, dass die Beklagte nicht substantiiert den Arbeitszeitaufzeichnungen entgegengetreten ist.
II. So entschied das LAG Niedersachsen
Das LAG stellte fest, dass die Arbeitszeitaufstellungen der Klägerin nachvollziehbar seien, da sie mit den Öffnungszeiten der Werkstatt im Wesentlichen korrespondieren.
Die Beklagte sei den detailliert wiedergegebenen Arbeitszeiten nicht substantiiert entgegengetreten. Weder legte sie eigene Arbeitszeitdaten vor, noch benannte sie konkrete Tage, an denen die Klägerin die in der Tabelle wiedergegebenen Arbeitszeiten nicht geleistet habe. Wie das Bundesarbeitsgericht am 13. September 2022 festgestellt hat, besteht durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschriften zum Arbeitsschutz in Deutschland die Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit in allen Betrieben. Hieran hat sich die Beklagte nach den Feststellungen des LAG nicht gehalten. Hätte sie ein solches System eingeführt, hätte sie dieses in die Lage versetzt, substantiiert zu den detaillierten Arbeitszeitvorträgen der Klägerin Stellung zu nehmen. Mangels vorhandener betrieblicher Zeiterfassung fehlte ihr somit die Grundlage für eine substantiierte inhaltliche Verteidigung im vorliegenden Rechtsstreit. Der Vortrag der Klägerin galt daher gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
Die Kernaussage des LAG lautet: Arbeitgeber können im Einzelfall bei fehlender Arbeitszeiterfassung durchaus Nachteile im Vergütungsprozess um Überstunden haben, da ihnen ggf. die Mittel fehlen, detailliert vorgetragenen Arbeitszeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer substantiiert entgegenzutreten.
Zwar ergibt sich aus der sog. „Stechuhr-Entscheidung“ des EuGH (Az.: C-55/18) keine unmittelbare Beweislastumkehr. Auch das BAG hat mit Urteil vom 4. Mai 2022 (5 AZR 359/21) festgestellt, dass die arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit im Prozess um die Vergütung der Überstunden nicht zu einer Verschiebung oder Umkehr der Beweislast führt. Allerdings kann der Arbeitgeber durchaus daran gehindert sein, substantiiertem Vortrag zu geleisteten Arbeitszeiten wirksam (und detailliert) entgegenzutreten.
Zudem sah das LAG die Überstunden als konkludent geduldet an. Dafür sprachen die anfallenden Aufgaben während der Öffnungszeiten und die Kenntnis des (nach den Feststellungen des LAG überwiegend persönlich anwesenden) Geschäftsführers von der Anwesenheit der Klägerin.
Auch die im Arbeitsvertrag geregelte Verfallsklausel stand dem Vergütungsanspruch nicht entgegen. Die Klausel hielt der gerichtlichen AGB-Prüfung nicht stand.
III. Was bedeutet das für Arbeitgeber?
- Arbeitszeiterfassungspflicht ernst nehmen
- Nach der Rechtsprechung des BAG ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bereits jetzt eine Pflicht zur Erfassung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit. Arbeitgeber sind gut beraten, dieser Verpflichtung konsequent nachzukommen – nicht nur aus Gründen des Arbeitsschutzes, sondern insbesondere jetzt auch, um im Streitfall über behauptete Überstunden gut vorbereitet zu sein.
- Transparente Kommunikation
- Wurden die Überstunden vom Arbeitgeber nicht veranlasst und sind ihm auch nicht zuzurechnen, besteht grundsätzlich kein Anspruch des Arbeitnehmers auf die Zahlung der Vergütung für die trotzdem geleistete Mehrarbeit. Allerdings kann die Überstundenvergütung auch ohne ausdrückliche Anordnung geschuldet sein, insbesondere, wenn die Arbeit durchgehend anfällt und die tatsächlich geleistete Mehrarbeit dem Arbeitgeber bekannt ist.
- Wirksame Ausschlussfristenklauseln vereinbaren
- Im entschiedenen Fall scheiterte die Beklagte zusätzlich an einer unwirksamen Ausschlussklausel. Eine rechtssichere Vertragsgestaltung ist deshalb unerlässlich.
IV. Ausblick
Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Revision zum BAG ist anhängig (Az.: 5 AZR 40/25). Es bleibt spannend, ob der 5. Senat die Gelegenheit nutzt, seine bisherige Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Lichte der Zeiterfassungspflicht weiterzuentwickeln oder zu korrigieren.
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